VERLIEREN WERDEN JENE, DIE VERSCHWINDENLASSEN – TEIL II

Das “Verschwindenlassen” wurde zur systematischen Politik des Staates.

Die “Verschwundenen” wurden Teil der Kriegsrealität in unserem Lande. Mit Einbruch des Jahres 1994, setzte der Staat das
Verschwindenlassen, die Revolutionäre den Kampf um die
“Verschwundenen” fort.

In den meisten Fällen wurden die Verschwundenen nicht aufgefunden. In dieser Phase konnten jedoch manchmal deren Leichen entdeckt werden. In nur seltenen Fällen konnten Personen, die man verschwindenlassen wollte, aus den Händen des Staates befreit werden.

Ein “Glücksfall” von einem Verschwundenen

Mit der Kondensidierung der Politik des Verschwindenlassens, begann sich auch die Sensibilität und das Kampfbewußtsein der Volkschichten zu entwickeln.

Die Mütter verlangten trotz aller Behinderungen Rechenschaft von den Mördern ihrer Kinder, sie knüpften mit zahlreichen ihrer Aktionen die Traditionen des Kampfes um die Verschwundenen. Der am 29. November 1994 von der Konterguerilla entführte Ayhan Uzala war die erste Person, die der staatlichen Politik des Verschwindenlassens entgehen konnte.

Beim Verlassen seiner Wohnung in Kadiköy/Istanbul wurde er in einem Angriffsakt von 7-8 Personen festgenommen. Dies war keine gewöhnliche Festnahme. Wie auch der Leiter dieser Einheit erklärte, wurden hierbei “illegale” Methoden angewandt.

Aufgrund der zunehmenden Öffentlichkeit im In- und Ausland, konnte die Ermordung von Ayhan Uzala, der 20 Tage lang in der Nähe von Izmit/Kandira verhört wurde, verhindert werden.

Ayhan Uzala beschrieb den Vorfall folgendermaßen:

“Nach meiner Entführung wurde ich lange lange verhört. Während des Verhörs wurden mir immer wieder Fotos von Pressekonferenzen, die meine Familie und diverse demokratische Massenorganisationen zu meinem Auffinden abgehalten hatten, vorgelegt.

(…) In der Nacht des 20. Tages kamen sie erneut. Eine zeitlang wurden die üblichen Fragen wiederholt. Wenig später fragte der Leiter des Teams mit Aufregung, “warum hast du uns nicht gesagt, daß du Holländischer Staatsbürger bist”. Jedoch danach hieß es: “Du hast die erste Stufe deiner Besucherphase überstanden, aber wir werden dich einem anderen Team übergeben. Und dort wirst du drei Monate lang bleiben, es werden neue Methoden ausprobiert.” Die mir am ersten Tag abgenommene Brieftasche und Gegenstände wie eine Uhr, wurden mir zurückgegeben. Danach setzte man mich in einen Kleintransporter.

Nach etwa drei Stunden wurde der Minibus in einer waldreichen Gegend angehalten und man brachte mich hinaus.

Das Geräusch von getrocknetem Laub, auf das wir beim Gehen traten und die Stille der Umgebung, ließen mich erkennen, daß wir uns in einem Wald befanden. Zuerst wollten sie mich an einem Baum
festbinden. Dagegen wehrte ich mich. Später lehnten sie mich an den Baum.

Der Leiter des Teams sagte: “Eigentlich ist der Film nun zu Ende, wir werden dich umbringen”. Die gleiche Stimme schrie: “Knie dich nieder!” Ich sagte “nein”, “ich werde auf keinem Fall niederknien”. (Ayhan Uzala, Özgür Ülke, 25. Dezember 1994)

Während die Erzählung des in einem Waldgebiet “freigelassenen” Ayhan Uzala die Politik des Verschwindenlassens des Staates und die Massaker bei der Festnahme vor Augen führt, ist sie auch ein Beispiel dafür, daß Festgenommene aus den Händen der Mörder befreit werden können.

Das Staatssicherheitsgericht hat zugestimmt, die Polizei ließ “verschwinden”

Cüneyt Aydinlar, Studentin der 3. Klasse der Fakultät für Kommunikationswissenschaften in der Istanbuler Universität, wurde am 22. Februar 1995, gemeinsam mit 13 Freunden festgenommen. Für das Polizeigewahrsam wurde von seiten des Staatssicherheitsgerichtes eine Frist von 15 Tagen festgelegt.

Der in diesem Fall zuständige Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichtes in Istanbul war Aytac Tolay. Im Hinblick auf die Umstände in der Türkei war dies soweit keine anormale Sache. Die grundlegenden Entwicklungen zeigten sich erst am Ende dieser 15 Tage.

Während die mit Cüneyt Aydinlar gemeinsam Festgenommenen vor das Staatssicherheitsgericht gebracht wurden, war Cüneyt Aydinlar, deren Festnahme der Staatsanwalt anerkannte, nicht anwesend.

Die Polizisten gaben an, daß Cüneyt Aydinlar aus der Festnahme heraus geflüchtet sei, und die Staatsanwaltschaft erließ in Sachen Flucht einen Haftbefehl gegen sie. Trotz vieler Zeugen und der offiziellen Anerkennung ihrer Festnahme ließ man Cüneyt Aydinlar unter Polizeigewahrsam verschwinden.

Aysenur, Hasan und Ridvan

Aysenur Simsek

Aysenur Simsek wurde im Januar 1995 festgenommen. Trotz aller Bestrebungen und reichlich gestellter Gesuche gab es keine Nachricht von ihr.

Die offiziellen Institutionen erkannten ihre Festnahme nicht an. Am 12. April rief der Staatsanwalt von Kirikkale Aysenur’s Familie an und teilte ihr den Ort, an dem Aysenur vergraben wurde mit. Aysenur wurde von der Konterguerilla entführt, anschließend gefoltert und ermordet.

Die Leiche von Aysenur, bei der Einschüsse in Kopf, Brust und Kinn festgestellt wurden, stellte eine neue Stufe in der Politik des Verschwindenlassens und der Massaker dar.

Hasan Ocak wurde am 21. März 1995 von der Konterguerilla
entführt. Trotz der monatelang durchgeführten Aktivitäten konnte kein Ergebnis erzielt werden. Während auch Hasan in die Liste der Verschwundenen aufgenommen wurde, fanden eines Tages Bauern in einem Waldstück in Beykoz seinen leblosen, Folterspuren aufweisenden Körper.

Hasan Ocak wurde am 21. März festgenommen, auf verschiedene Arten gefoltert und danach erdrosselt.

Nachdem die in dem Dorf Bozhane/Beykoz gefundene Leiche 28 Tage lang im gerichtsmedizinischen Institut aufbewahrt wurde, vergrub man sie auf dem Friedhof für ‘Unbekannte’ in Altinsehir.

Sein Bruder, der am 16. Mai das gerichtsmedizinische Institut aufsuchte, konnte Hasan auf dem Foto identifizieren. Hasan wurde wie Aysenur entführt, ermordet und seine Leiche danach in einer verlassenen Gegend zurückgelassen.

Die von Folterspuren bedeckte Leiche von Ridvan Karakoc, den man Ende Februar verschwinden lassen wollte, wurde ebenfalls im Monat März im Waldgebiet bei Beykoz aufgefunden. Danach wurde er auf dem Friedhof für ‘Unbekannte’ vergraben.

Der Staatsanwalt von Beykoz sagte, daß die Familie von Ridvan Karakoc aufgesucht worden sei, nachdem man seine Identität durch
Fingerabdrücke festgestellt hatte.

Jedoch seine Leiche wurde am 3. März gefunden und befand sich bis zum 26. März im gerichtsmedizinischen Institut. Danach wurde er im Friedhof für ‘Unbekannte’ vergraben. Erst nachdem die Leiche von Hasan Ocak von seinem Bruder identifiziert wurde, konnte der Verbleib von Ridvan Karakoc aufgeklärt werden.

Die Oligarchie ließ Terror über dem Volk walten, indem sie in dieser noch achtloser werdenden Phase, die Leichen der unter der Festnahme ermordeten Menschen an leicht auffindbaren Plätzen zurückließ. Die Oligarchie, welche darauf abzielte, das Volk in Angst und Schrecken zu versetzen und die Revolutionäre zur Ergebung zu zwingen, versuchte mit dieser Methode, bei der sie zu Erkennen gab “Ich bin der Staat, ich lasse verschwinden, ermorden”, Angst und Passivierung zu vertiefen.

Sie dehnte den gegen das Volk gerichteten psychologischen Angriff aus.

“Die Türkei wird kein Argentinien werden”

Trotz des noch rücksichtsloser werdenden Terrors der Oligarchie, schwieg das Volk nicht. Die Angriffe wurden mit zahlreichen Aktionen verdammt.

Während einer von DHKC (Revolutionäre Volks Befreiungs Front) geführten Kampagne forderte das Volk Rechenschaft von seinen Feinden. In dieser Phase der zahlreich verwirklichten Aktionen, kamen auch im Kampf um die Verschwundenen neue Traditionen auf.

Am 12. Mai blockierten Angehörige des TIYAD (Hilfs- und
Menschenrechtsverein der Angehörigen von Gefangenen) die Bogaz Brücke, brachten den Verkehr zum Stillstand und riefen Parolen wie: “Die Türkei wird kein Argentinien!”

Am 19. Mai beteiligten sich mehr als 10 000 Menschen aus dem Volk und verschiedenen revolutionären Organisationen an der Beerdigung von Hasan Ocak im Gazi-Viertel (Istanbul).

Mit den zahlreich organisierten Forums an den Universitäten, Gedenkfeiern in den Vierteln, Anbringen von Plakaten und Transparenten wurde das Thema Verschwindenlassen an die Öffentlichkeit
herangetragen.

DHKC hat durch Verwirklichung von Bombenanschlägen, Bestrafungsaktionen die Feinde des Volkes zur Rechenschaft gezogen.

Auch im Ausland wurden zahlreiche Besetzungsaktionen durchgeführt. In Köln wurden Treffen und eine Demonstration abgehalten.

An einer vom Informationszentrum für freie Völker eröffneten Unterschriftenkampagne beteiligten sich zahlreiche Personen und Institutionen in Europa.

Auch im Mittleren Osten gaben viele Organisationen ihre Unterstützung im Kampf gegen das Verschwindenlassen. Mit zahlreichen von Organisationen aus dem Irak, Syrien, Palästina und Tunesien veröffentlichten Erklärungen wurde der Faschismus geächtet.

Am 9. Juni 1995 wurde von der – der DHKC angehörigen – Bewaffneten Propagandaeinheit Ibrahim Yalcin, das unter dem Kommando von Sibel Yalcin stand, eine Aktion gegen Polizisten, die den Eingang des Bezirksgebäudes der DYP (Partei des Rechten Weges) in Istanbul bewachten, durchgeführt. Bei der Aktion wurde ein Polizist getötet, einer schwer verletzt.

DHKC bekannte sich zu der Aktion, bei der Sibel Yalcin im späteren Verlauf während einer Auseinandersetzung starb, mit folgender Erklärung:

“Der Mörder von Aysenur Simsek ist der Staat. Es sind seine Konterguerilla, seine Polizei, der MIT (Nationaler Nachrichtendienst) und seine Armee. Das Volk kann nihct ohne Gerechtigkeit leben. Es kann nicht Zuschauer bleiben von Ungerechtigkeit und Unterdrückung in einem Land, in dem es nicht ein Anzeichen von Gerechtigkeit gibt. Es kann sich nicht den Tyrannen, der Unterdrückung und Ehrlosigkeit beugen. Es kann nicht kapitulieren.”

Wir werden nicht kapitulieren. Wir werden die Gerechtigkeit des Volkes anwenden.”

“Wo sind unsere 300 verschwundenen Menschen?”

Im Monat Juli führte die DHKC eine neue Kampagne unter dem Motto “Wo sind unsere 300 verschwundenen Menschen?” durch.

Zu Beginn dieser Kampagne, am 9. Juli wurden in Okmeydani ein Folterer bestraft.

Die effektivsten Aktionen der Kampagne stellten die Besetzungen dar. Am 13. Juli besetzten “Revolutionäre Volkskräfte” die Zentrale der “Neuen Demokratischen Bewegung” in Istanbul; ihre Forderung: “Wir wollen die Mörder von Aysenur, Hasan und Ridvan”. Am 14. Juli wurde der Galata-Turm besetzt. Ebenfalls die Anwaltskammer in Istanbul wurde am 28. Juli besetzt.

Die Besetzungen, durch welche die ganze Öffentlichkeit von der Thematik des Verschwindenlassens unterrichtet werden sollte, brachte u.a. die Frage “Wo sind unsere 300 verschwundenen Menschen” zum Ausdruck.

Am 16. und 17. Juli zogen KämpferInnen der DHKC die folternden Feinde des Volkes zur Rechenschaft. Es wurden Angriffe auf Polizeieinheiten in Beyazit und Alibeyköy durchgeführt.

Neben Istanbul wurden während der Kampagne in zahlreichen Städten Anatoliens, wie auch in Europa Aktionen organisiert.

In Kurdistan zu verschwinden

Dort herrschte der “OHAL” (Ausnahmezustand). Dort war alles ein wenig anders.

Das kurdische Volk, das seit Jahrzehnten Unterdrückung und Massakern ausgesetzt ist, war in den 90er Jahren eine der Schichten, die den Staatsterror in höchstem Maße ertragen mußten. Häuser, Dörfer wurden in Brand gesteckt. Auf Dorfplätzen und in den Polizeiwachen wurden Massenfolterungen durchgeführt.

Weil es die nationale Ehre verteidigte, betrachtete man jede Art der Unterdrückung als angemessen. Hunderte, Tausende wurden
massakriert. Die Politik des Verschwindenlassens wurde auch am kurdischen Volk rücksichtslos angewandt.

Es wurden hunderte von Menschen “verschwindenlassen”. Heute ist es nicht einmal möglich, die genaue Zahl der Verschwundenen anzugeben.

Sie wurden als hunderte von “namenlosen Verschwundenen” in die Liste der Verschwundenen aufgenommen.

“Wir werden Düzgün finden”

Am 21. Oktober 1995 wurde Düzgün Tekin, der die Wohnung eines Verwandten im Evren-Viertel (Istanbul) verließ um zur Arbeit zu gehen, von Zivilpolizisten entführt und “verschwindenlassen”. Düzgün hatte kurz vor seinem Verschwinden seiner Familie berichtet, in der vergangenen Woche ständig von der Zivilpolizei verfolgt worden zu sein, und nannte das Kennzeichen des Fahrzeuges, 34F 6676, mit dem er verfolgt wurde.

Trotz aller Bemühungen seiner Angehörigen und Anwälte, leugnete die Polizei Düzgün’s Festnahme. Düzgün war ein Arbeiter und gehörte der Revolutionären Arbeiterbewegung an.

Seine Mutter, Elif Tekin, welche erklärt, “Ich möchte meinen Sohn vom Staat. Wir sind überall hingegangen, sie sagen ‘Er ist nicht hier’. Wir haben auch darauf geschworen, wir werden Düzgün finden”, wurde zu einer hartnäckigen und entschlossenen

“Angehörigen der Verschwundenen”.

Zum Auffinden von Düzgün Tekin wurde u.a. eine Kampagne, die internationale Dimensionen annahm, organisiert. Im November und Dezember wurden zahlreiche Kundgebungen für Düzgün abgehalten.

Außerdem kam es zu mehreren Bombenanschlägen auf faschistische Institutionen.

Am 1. Dezember wurde auf ein Polizeiauto in Firüzköy ein bewaffneter Angriff durchgeführt. Am 19. Dezember besetzten die Mütter das Wahlbüro des ehemaligen Staatsministers Algan Hacaloglu. Trotz all der in dieser Phase durchgeführten Aktionen, konnte über den Verbleib Düzgün Tekin’s nichts erfahren werden.

Im Mai 1996 zeigten sich im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Düzgün neue Entwicklungen. Kasim Acik, der im Gebze Gefängnis verhört und danach von MLKP bestraft wurde, erwähnte in einem Geständnis, daß Düzgün in Cadirkent vergraben worden sei. Daraufhin begann eine Suchaktion nach seiner Leiche in Cadirkent. Die Aktion, bei der Elif Tekin in vorderster Reihe stand, wurde von anderen Müttern und diversen demokratischen Massenorganisationen mitgetragen.

Am 31. Juli wurde das CHP Bezirksgebäude in Fatih von der DHKC attackiert. Auch am 20. August fand ein Angriff auf die Polizeiwache in Örnektepe statt.

Während die DHKC in dieser bedeutenden Phase des Kampfes gegen das Verschwindenlassens zeigte, daß die Mörder nicht ungestraft davonkommen, wurde mit den zahlreichen Aktionen eine breite Öffentlichkeit geschaffen.

Obwohl das Jahr 1995 eines der Jahre mit den meisten Verschwundenen darstellte, konnte in der darauffolgenden Phase eine sich steigernde Kampftradition verzeichnet werden.

Der Kampf gegen das “Verschwindenlassen” und die eingenommene Position

Der Kampf, der gegen das Verschwindenlassen geführt wurde war insofern bedeutend, als daß er die psychische Einwirkung, welche der Staat zu verbreiten versucht, brechen und die Politik des Verschwindenlassens leer ausgehen lassen sollte.

Der Staat dachte, daß sich die Gesellschaft mit jedem Verschwundenen ein Stück zurückziehen wird. Er versuchte an die “Verschwundenen” zu gewöhnen. Jedoch dies war nicht der Fall.

Mit dem Eintreten der Mütter für ihre Kinder kam die Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit des Staates zum Vorschein. Der Kampf gegen das Verschwinden lief über die Grenzen des Landes hinaus und verbreitete sich in der ganzen Welt. Auf diesem Gebiet wurden neue Traditionen geschaffen.

Besonders die Mütter der Verschwundenen mit ihrer jeden Samstag vor dem Galatasaray Gymnasium abgehaltenen Sitzaktion stellen einen wichtigen Teil des Kampfes um die Verschwundenen dar.

Zweifellos wurde diese Position nicht leicht erworben, war nicht einfach zu halten.

Die Mütter wurden niedergenüppelt, vom Platz gezerrt, wurden gefoltert, aber sie haben nicht aufgegeben.

Trotz allem Terror, den der Staat verbreitete und den Rückschritten zahlreicher reformistischer Kreise, gewannen die Mütter der Verschwundenen. Der Staat versuchte diesmal mittels
“Verschwundenen-Autobussen” und eingerichteten “Verschwundenen Büros” sein enthülltes Gesicht zu verstecken. Jedoch die Mütter wußten, wer die Mörder waren. Auch diese Manöver des Staates sind geplatzt. Die Realität des Verschwindenlassens in unserem Land auf die Tagesordnung bringend, war es unter allen Bedingungen die Partei-Front, die dafür kämpfte. Ob nun Aktionen auf der demokratischen Ebene geführt wurden oder Aktionen, in der zur Rechenschaft gezogen wurde, die Partei-Front hat die Verschwundenen nicht aufgegeben.

Dieser Kampf verlief in einer Linie, welche die Politik der Oligarchie durchkreuzte und nach Rechenschaft verlangte.

Auch heute ist der Kampf gegen das “Verschwindenlassen” die Aufgabe aller, die sich als Menschen bezeichnen.

Obwohl zu diesem Thema bereits eine ernsthafte Sensibilität hervorgerufen wurde, reicht dies allein nicht aus. Jene, die morgen nicht selbst an die Reihe kommen wollen, müssen sich heute für die Verschwundenen einsetzen.

Wenn die staatliche Politik des Verschwindenlassens ins Leere laufen und dem Verschwinden ein Ende bereitet werden soll, ist dies unumgänglich.


“VERSCHWUNDENE” IN DER WELT

Das Land, das die Verschwundenen ins Gedächtnis ruft: Argentinien

In den Jahren zwischen 1976-1983, da die Militärjunta, die zur Niederhaltung des sich steigernden Befreiungskampfes des Volkes einen Putsch verübte, an der Macht war, betrug die Zahl der “Verschwundenen” in Argentinien zwischen 30 und 40 Tausend.

Die Politik des “Verschwindenlassens”, welche seit den 60er Jahren in den lateinamerikanischen Ländern geläufig war und sich später auf die neokolonialen Länder der Welt übertrug, fand seine häufigste Anwendung in Argentinien. Die Ausführer dieser Politik waren die Armee und die mit ihr kooperierende Konterguerilla- Organisation AAA
(anti-kommunistisches Bündnis Argentiniens).

Der Argentinier Aliciay Partnoy, der vor dem Verschwindenlassen gerettet werden konnte, beschreibt die Zusammenarbeit von Armee und AAA folgendermaßen:

“Eines Tages wurde ich vor meinem Haus von uniformierten Soldaten festgenommen. Innerhalb der fünf Monate, in denen ich mich in ihren Händen befand, habe ich im Bezug auf das “Verschwindenlassen” sehr viel gelernt. Meine Hände gefesselt und meine Augen verbunden, wurde ich in ein Militärfahrzeug gesteckt. Ich befand mich in den Händen des anti-kommunistischen Bündnisses Argentiniens, von dem die Armee behauptet, in keinerlei Verbindung mit ihr zu stehen.”

Jene, die sich in den Sammelzentren und Lagern befanden und alle, die die Unabhängigkeit Argentiniens wollten, wurden hier als Geisel festgehalten. Das Leben dieser der Folter und Unterdrückung ausgesetzten Menschen hing vom Zufall ab. Die in dieser Phase in Argentinien angewandte Grausamkeit wurde bei einem Geständnis des im Wachregiment der Bewaffneten Kräfte Argentiniens im Rang eines Unteroffiziers stehenden Victor Armanda Ibarez, wenn auch nur in kurzer Ausführung in der in Buenos Aires erscheinenden Zeitung “La Pensa” am 24. April 1995 veröffentlicht. Der Unteroffizier Ibanez erklärte in diesen Geständnissen, zwischen 1976 und 1978, in denen er in El Compito Aufgaben ausführte, etwa 2000 Frauen und Männer verschiedenen Alters auf unmenschliche Weise ermordet zu haben.

Der Unteroffizier Ibanez gab an, daß die “verschwundenen” Menschen in Argentinien, von denen der Staat behauptete, daß sie nicht in seinen Händen seien, nachdem man sie mit einer sog. Pananoval Spritze betäubt hatte, über dem Meer aus Flugzeugen warf. Die mit den an die Luftwaffe gebundenen Phantom Flugzeugen vollbrachten Greueltaten waren ein Festessen für die Haie. Die Haie, welche mit Appetit die Menschen, die man aus dem Flugzeug warf verzehrten, begannen richtig dick zu werden. Auf diese schrecklichen Details möchte ich nicht eingehen.

Im Betracht dieses Massakers, dessen Zeuge ich war, schäme ich mich, ein Mensch zu sein.”

(Cumhuriyet, 5. Januar 1997, S. 6)

Der Unteroffizier Ibanez war nicht der einzige, der im Zusammenhang mit den verübten Massakern Geständnisse ablegte.

Auch ein Hauptmann im Ruhestand, Adolfo Francisco Scilingo, sagte Ähnliches aus.

Der General Martin Balz berichtete im Fernsehen:

“Neben den Verletzungen im Bezug auf das Lebensrecht, wandte man bei den Festgenommenen zahlreiche illegale Methoden an. Das erlebte Schrecken können wir nicht weiter in Abrede stellen. Die begangenen Fehler werden wir nicht wiederholen. Darauf gebe ich mein Wort”.

(Yeni Politika, 14. Mai 1995, S. 4)

Es wurden derart grausame, unmenschliche Methoden angewandt, wie z.B., daß schwangere Frauen in Argentinien bis zu ihrer Geburt schwerer Folter ausgesetzt wurden, und aneinandergekettet ihre Zeit abwarten mußten. Nach der Geburt wurde die Mutter ermordet und
“verschwindenlassen”. Die Säuglinge wurden den Folterern, die ihre Muter ermordet hatten, Soldaten, Staatsanwälten und Richtern übergeben. Heute gibt es in Argentinien zehntausende von Großmüttern, die nach ihren Enkeln, deren Mütter und Väter ermordet wurden, suchen.

“Kommissionen für das Identitätsrecht” wurden gegründet, und 56 der zur Wiederfindung der Enkelkinder eröffneten Prozesse wurden abgeschlossen.

Jene, die vom Schicksal des in Argentinien vorherrschenden Terrors getroffen wurden, die man “verschwinden” ließ, waren nicht nur Sozialisten und Revolutionäre.

Jeder, der gegen die Junta war, selbst ‘Menschen wie du und ich’ wurden schwerster Folter ausgesetzt und “verschwindenlassen”.

Ein Beispiel aus Afrika – Westsahara

Die Politik des “Verschwindenlassens” des US-Imperialismus, welche vom Hitler Faschismus übernommen, weiterentwickelt und in Lateinamerika angewandt wurde, praktizierten innerhalb kurzer Zeit, die
kollaborierenden Herrschenden aller neokolonialen Länder.

Die Marokkanische Führung, welche Westsahara besetzte, griff ebenfalls nach der Waffe des “Verschwindenlassens”. Der Westsaharier El Khadir Daoud, den man in dieser Phase verschwindenlassen wollte, der jedoch 16 Jahre später in gesundem Zustand wieder auftauchte, berichtet:

“Der Beginn unseres Krieges liegt 30 Jahre zurück. Unser Land Sahara, ein Land in Afrika, wurde unter Spanien, Marokko, Algerien und Mauretanien aufgeteilt.

Unser im November 1975 von Spanien kolonialisiertes Land wurde mittlerweile an Marokko und Mauretanien abgegeben. Nachdem Marokko Westsahara besetzt hatte, startete die Regierung von Marokko Angriffe auf die Angehörigen von Militanten der POLISARIO (El Hamra und Rio de Ora – Volksbefreiungsfront), welche sich gegen die Besetzung gegründet hatte.

Nach Angaben von amnesty international sind mehr als 260 Menschen verschwunden.

Am Morgen des 17. März 1976, der Zeit in der ich meine Ausbildung zum Mittelschullehrer antrat, wurde ich von Zivilpolizisten festgenommen.

Zuerst schnitt man uns Haare und Bärte ab. Unsere eigene Kleidung wurde uns abgenommen und stattdessen gaben sie uns Hose und Hemd.

Danach wurden uns Befehle erteilt. ‘Du bist nun in der Schule, vergiß deinen Namen. Nummer 82. Wenn du zur Toilette muß, Wasser, dich waschen oder beten willst, dann rufe (El Hajj)’. Danach wurde ich nicht mehr mit Namen angesprochen. Es wurden Fragen im Zusammenhang mit POLISARIO gestellt.

Wir berechneten die Tage nach den Mahlzeiten, die sie uns unter Zwang verabreichten, um die Folter ertragen zu können.

Das Verhör unter Folter dauerte 7 Monate.

(…) Unsere Verbindung zur Außenwelt wurde völlig abgebrochen. Ich bekam 16 Jahre lang weder Radio noch Musik zu hören. Ich habe weder ein Buch, noch einen Schreibstift zu sehen bekommen.

5 Jahre lang haben wir uns nicht rasiert. Unsere wachsenden Bärte und unseren Schnurrbart haben wir mit einer Zigarette gekürzt. Unsere Bekleidung blich aus und fing an zu zerfallen.

1991 brachten die lokalen Sicherheitskräfte in das Zentrum, wo wir uns befanden, einen Fernseher, einen Videorekorder und eine Kassette. Sie überreichten uns eine Botschaft, in der Art, daß ‘der König von Marokko, Hasan II., den Leuten aus Sahara, die sich im Gefängnis befinden, vergeben hätte’. Danach, im Juli 1992 wurde ich gemeinsam mit 60 “Verschwundenen” in ein Militärfahrzeug gesetzt und in ein leeres Hotel in Quarzazate gebracht. Später kam ich auch in meine Geburtsstadt Tan-Tan. Nach meiner Freilassung blieb ich noch zwei Tage lang offiziell unter Polizeigewahrsam.”

(Demokrasi, 18. Mai 1996)

Der nach 16 Jahren freigelassene und offiziell zwei Tage lang festgehaltene Daoud gab an, daß in den geheimen Festnahmezentren mehr als 60 Menschen ermordet wurden.

Der Kampf gegen das “Verschwindenlassen” weltweit

Der Kampf gegen das “Verschwindenlassen”, gelangte zum ersten mal im Jahre 1977 mit den Aktionen der Mütter von “Verschwundenen” am Plaza de Mayo in Argentinien, nur 100 Meter entfernt von der Hauptzentrale der Junta, an die Weltöffentlichkeit. Die “Mütter des Plaza de Mayo”, benannt nach dem Ort der Aktion, begannen ihre Aktion eines Donnerstags, an dem sie zusammenkamen, unter der Vorhutschaft der Mutter eines “Verschwundenen”, Azucina Villaflor de Vicenti. Die Zahl der an der Aktion Teilnehmenden stieg von Tag zu Tag.

Sie hatten immer weiße Kopftücher getragen, stellten schriftliche Gesuche, zündeten Kerzen an, ketteten sich an Türen Staatlicher Institutionen und gaben Annoncen auf…

Während des 1978 in Argentinien abgehaltenen Fußball WM-Spiels ließen sie die ganze Welt von ihrem Kampf hören.

Die faschistische Junta in Argentinien, deren blutiges Gesicht vor der ganzen Welt bloßgestellt wurde, begann die Mütter des “Plaza de Mayo” in ihrer Ausweglosigkeit noch heftiger anzugreifen.

Viele Anwälte, welche als Sprachrohr der Mütter fungierten, und auch Senora Vicenti ließ man verschwinden. Jedoch die “Verschwundenen”, die Bedrohungen und Angriffe des Staates ließen sie niemals von ihrem gerechten Kampf abbringen.

1971 wandte sich die 81jährige Frau Pargament, nachdem sie ihren Sohn “verloren” hatte an alle ihr bekannten und geschätzten Freunde, und sogar an das von der Junta eingerichtete “Verschwundenen Büro”, blieb jedoch erfolglos.

Senora Pargament erzählte daraufhin folgendes:

“Die derzeit mit uns gemeinsam unglücklich nach ihrem Kind suchende Mutter, Villaflor de Vicenti sagte eines Tages: ‘Wir laufen völlig sinnlos herum. Auf diese Art und Weise werden wir nirgends etwas ausrichten. Warum gehen wir nicht auf den ‘Mayo-Platz’ und führen eine Sitzaktion durch. Dort können wir den Menschen von unseren Sorgen erzählen und an zuständige Stellen Briefe schreiben.’ Dieser Tag war der 30. April 1977. Ein Samstag. Am ersten darauffolgenden Donnerstag saßen wir auf dem Platz. Unsere Zahl erhöhte sich mit jedem Donnerstag. Die Polizei fragte uns, wonach wir herseien. Wir antworteten ‘Wir wollen unsere Kinder wieder. Diesbezüglich werden wir auch einen Brief verfassen’. Sie sagten, ‘Wenn das so ist, dann müßt ihr euch in Bewegung setzen. Daran führt kein Weg vorbei’. Wir setzten uns in Bewegung. In einer Reihe aufgestellt liefen wir eine Gegend ab, in der sich staatlichen Behörden befanden. Wir konnten marschieren und Briefe schreiben zugleich. Wie ihr euch vorstellen könnt, machte sich die Polizei sofort daran, uns zu behindern. Aber wir Mütter hatten vor nichts Angst.”

(Cumhuriyet, 5. Januar 1997, S. 7)

Die faschistische Junta bezeichnete die Mütter, deren Kampf sie erniedrigen und beschmutzen wollten als “Las Lacos” (verrückte Frauen) oder “die Wahnsinnigen vom Donnerstag”. Der vom Staat verübte Terror wie Folter, Massaker und Verschwindenlassen, welcher den Kampf der Mütter des ‘Plazo de Mayo’ niederhalten sollte, verlief ebenfalls im Sand.

Letztendlich versuchte der Staat die Mütter mit neu verordneten Gesetzen zu bestechen. Es nutzte nichts. Die Mütter wiesen das Geld, das mit dem Blut ihrer Kinder befleckt war zurück.

Am Ende des Kampfes, welchen das Argentinische Volk mit dem Wunsch auf Gerechtigkeit gegen die faschistische Junta geführt hatte, eröffnete die 1983 an die Macht gekommene Zivile Regierung Schauprozesse gegen die Junta-Anführer.

In diesen Prozessen wurden lediglich der Junta-Chef General Jorge Videla und Admiral Emilio Massera zu lebenslanger Haft
verurteilt. Jedoch wurde auch diese nach einer Weile mit einer erlassenen Amnestie freigelassen.

Die heutige Situation beschreibt Senora Pargament folgendermaßen:

“Jetzt sagt unser Staatsminister, daß pro “Verschwundenen” 1 Mio. Dollar überreicht werden sollen. Wir sind jedoch nicht an dem blutigen Geld des Staates interessiert. Wir wissen sehr gut, daß wir, wenn wir das Geld annehmen, ganz stillschweigend dasitzen müssen. Dann wird uns jegliches Recht einer Forderung genommen. Diese Menschen kennen uns nicht. Wir werden das Blut unserer Kinder nicht
verkaufen. Wir werden den Mördern nicht vergeben und nicht
vergessen. Wir werden unseren Kampf bis zum letzten Tropfen Blut fortsetzen.

Der Kampf der Mütter ist von politischem Charakter.

Wir wollen, daß alle Familien ein Dach über ihrem Kopf, die Väter Arbeit und die Kinder die Möglichkeit zur Schule zu gehen, haben. Wir wollen ein Land, in dem es sich leben läßt. Das wollten auch unsere Kinder, und allein aus diesem Grunde sind sie von uns gegangen.

30000 verschwundene Kinder haben für eine bessere Welt gekämpft. Wir Mütter jedoch haben dies erst begriffen, nachdem wir unsere Kinder verloren hatten.

Den richtigen Weg haben uns unsere Kinder gezeigt.
(Cumhuriyet, 5. Januar 1997, S. 7)

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