AUFRUF VON RECHTSBÜRO DES VOLKES/INTERNATIONALES BÜRO

AUFRUF AN ALLE JURISTISCHEN ORGANISATIONEN, JURIST_INNEN UND ANWÄLT_INNEN

LASST UNS DIE SOLIDARITÄT UND DEN GEMEINSAMEN WIDERSTAND FÜR DIE ERFÜLLUNG DER FORDERUNG DER BEIDEN ANWÄLTE EBRU TIMTIK UND AYTAC ÜNSAL, DIE IM TODESFASTEN FÜR EIN „FAIR TRIAL“ SIND, VERBREITEN

Die beiden türkischen Rechtsanwälte, Ebru Timtik und Aytac Ünsal, waren seit einiger Zeit im Hungerstreik und haben am 05.04.2020 verkündet, dass ihr Hungerstreik nun in ein Todesfasten übergeht. Ebru Timtik hat den 100sten Tag überschritten, Aytac Ünsal den 70sten Tag.

Die Anwälte des Volkes wurden vor 3 Jahren festgenommen und in einem willkürlichen, unrechtmäßigen und racheorientierten politischen Verfahren zu insgesamt 159 Jahren Haft verurteilt. Gegen dieses unrechtmäßige und ungerechte Verfahren sowie das Urteil haben sich sowohl die inhaftierten Anwälte, als auch nicht inhaftierte Anwälte und juristischen Organisationen sowohl in der Türkei als auch überall auf der Welt Kampagnen und Veranstaltungen durchgeführt. So haben die im Rahmen dieses Verfahrens inhaftierten Anwälte am 3. Februar 2020 verkündet, dass sie mit der Forderung nach einem Fair Trial in den Hungerstreik treten. Am 05. April 2020 haben zwei der Anwälte, Ebru Timtik und Aytac Ünsal den Hungerstreik in ein Todesfasten umgewandelt.

Warum sind die Anwälte des Volkes im Todesfasten? Hierzu muss man sich dieses Verfahren einmal anschauen, welches von Beginn an voller Rechtsverstöße und Willkür war und sich die Ungerechtigkeiten vergegenwärtigen, denen sie ausgesetzt waren.

  • Es begann am 12. September 2017 mit zeitgleichen Durchsuchungen und Festnahmen von 16 Anwälten in den Büros des „Rechtsbüros des Volkes“ in Istanbul, Ankara, Izmir, Amed (Diyarbakir) sowie im „Rechtsbüro Umut“ in Ankara und Istanbul sowie in diversen weiteren Kanzleien
  • 14 der festgenommenen Anwälte wurden 10 Tage später einem Haftrichter vorgeführt, der die Verhaftung mit dem Verdacht der „Mitgliedschaft in einer Organisation“ anordnete. Weitere 3 Anwälte wurden festgenommen und anschließend verhaftet. So erhöhte sich die Zahl der im Rahmen der Operation festgenommenen Anwälte auf 17. Die Anwälte Günay Dag und Oya Aslan wurden als „flüchtig“ notiert.
  • Der Vorwurf gegen die 17 Anwälte lautete auf „Mitgliedschaft in einer Organisation“. Als Anhaltspunkte für diese Vorwürfe dienten die abstrakten, nicht mit objektiven Beweisen untermauerten Aussagen von namentlich nicht genannten Zeugen und einigen geständigen Angeklagten. Einen Großteil der Aussagen und damit auch der Vorwürfe bildeten die Wahrnehmung ureigenster anwaltlicher Berufspflichten, wie beispielsweise „Erinnerung der Mandanten an ihr Schweigerecht während der Untersuchungshaft“, oder „der Widerstand gegen Folter und ungerechter, unmenschlicher Behandlung, denen ihre Mandanten ausgesetzt waren“ oder „dafür zu sorgen, dass ihre Mandanten so schnell wie möglich freikommen“. Auch wurde ihnen vorgehalten, dass sie die Verteidigung der Nebenkläger in den Verfahren um die Ermordung von Dilek Dogan oder Berkin Elvan durch die Polizei oder die Ermordung von Hasan Ferit Gedik, der gegen Drogenbanden kämpfte sowie in dem Verfahren um das Minenunglück von Soma, wo 301 Minenarbeiter ihr Leben verloren und vielen anderen Verfahren, die im öffentlichen Interesse standen, übernahmen. So wurde die Berufsausübung der Anwälte kriminalisiert und in die Anklage aufgenommen. Der eigentliche Grund für die Inhaftierung der Anwälte war somit die Art ihrer Beraufsausübung.

Diese Unrechtmäßigkeit spiegelte sich auch in dem Verfahren wider. So kam es im Laufe des Verfahrens zu Folgendem:

  • Die 17 inhaftierten Anwälte wurden am Ende der ersten Verhandlungswoche vom 10.-14. September 2018 vor der 37. Kammer des Schwurgerichts in Istanbul auf freien Fuß gesetzt.
  • Der Beschluss wurde am Freitag, den 14. September 2018 um 22.10 Uhr verkündet. In den Morgenstunden wurden die Anwälte aus der Haft entlassen.
  • Jedoch hat der Staatsanwalt am Samstag, den 15. September 2018 gegen 1 Uhr früh Beschwerde gegen den Beschluss erhoben. Daraufhin wurden gegen 12 der freigelassenen Anwälte am Samstag, den 15. September 2018 gegen 16.30 Uhr, obwohl es Wochenende war, ein Beschluss erlassen, den es so nicht in der Strafprozessordnung gibt und der auf „Festnahme zur Verhaftung“ gerichtet ist. Noch am selben Tag wurden 6 der Anwälte verhaftet.
  • Sodann wurde die den Freilassungsbeschluss erlassende 37. Kammer des Schwurgerichts aufgelöst, die Dienstorte von einigen Mitgliedern der Kammer wurden geändert, sie wurden bestraft, indem sie an untergeordnete Gerichte versetzt wurden.
  • Die neue Besetzung wurde aus Richtern wie Akin Gürlek zusammengestellt, die bekannt für ihre Nähe zur politischen Führung und ihren Hass auf Oppositionelle, insbesondere Menschen mit revolutionär-sozialistische Ideen waren.
  • Am 15. September 2018 hat die durch eine offene Intervention der politischen Führung neu besetzte 37. Kammer des Schwurgerichts unter dem Vorsitz des Richters Akin Gürlek von nun an das Verfahren so geführt, dass widerrechtlich weder die geltende Strafprozessordnung, noch allgemeine Rechtssätze beachtet wurden, das Recht auf Verteidigung und die Grundsätze des „Fair Trial“ missachtet wurden und im Zuge der Vorgaben der politischen Führung eine schnelle Verurteilung herbeigeführt wurde.
  • Während des Verfahrens wurden sowohl die Anwälte, als auch die Verteidiger der Anwälte daran gehindert, ihre prozessualen Rechte wahrzunehmen, sie wurden daran gehindert, auszureden oder die namentlich nicht genannten Zeugen oder die Geständigen zu befragen. Die Beweisanträge der Anwälte oder ihrer Verteidiger wurden zurückgewiesen, sie wurden mit Gewalt aus dem Sitzungssaal geworfen. Im Laufe des Verfahrens kam es noch zu vielen weiteren Unrechtmäßigkeiten.
  • Am Ende des Verfahrens wurden die Anwälte ohne die Vorlage von konkreten Beweisen, bloß an Hand der oben dargestellten zweifelhaften Aussagen von namentlich nicht genannten Zeugen und Geständigen und entsprechend der Vorgaben der politischen Führung mit dem höchstmöglichen Strafmaß verurteilt.

Die gegen die Anwälte verhängten Strafen sind wie folgt:

  • Barkin Timtik: Gem. § 314 Abs. 1 des Türk. Strafgesetzes wegen „Gründung und Leitung der Organisation“ zu 18 Jahren 9 Monaten und zur Fortdauer der Haft,
  • Özgür Yilmaz: 13 Jahre und 6 Monate Haft und Erlass eines Haftbefehls,
  • Ebru Timtik: 13 Jahre und 6 Monate Haft und Erlass eines Haftbefehls.
  • Behiç Aşçı: 12 Jahre und Fortdauer der Haft,
  • Sükriye Erden: 12 Jahre Haft und Erlass eines Haftbefehls,
  • Selçuk Kozağaçlı: 10 Jahre und 5 Monate und Fortdauer der Haft,
  • Engin Gökoğlu: 10 Jahre und 6 Monate und Fortdauer der Haft,
  • Aytaç Ünsal: 10 Jahre und 6 Monate und Fortdauer der Haft,
  • Süleyman Gökten: 10 Jahre und 6 Monate Haft und Erlass eines Haftbefehls,
  • Ayçan Çiçek: 9 Jahre und Fortdauer der Haft
  • Naciye Demir: 9 Jahre Haft und Erlass eines Haftbefehls,
  • Ezgi Çakır: 8 Jahre Haft
  • Andererseits wurde auf Grund der Tatsache, dass Ezgi Çakır ein minderjähriges Kind und der Kindsvater flüchtig war, die Haftstrafe in ein Hausarrest umgewandelt.

Dies ist die Entwicklung, die dazu geführt hat, dass die Anwälte zunächst in den Hungerstreik getreten, sodann diesen Hungerstreik in ein Todesfasten umgewandelt haben. In dieser Zeit haben sie alles getan, was sie gegen die Ungerechtigkeiten und das ihnen widerfahrene Unrecht hätten tun können. Mit dem nun begonnenen Hungerstreik und Todesfasten tun sie das letzte, was ihnen noch geblieben ist an Widerstand gegen das ihnen widerfahrene Unrecht, wobei von ihnen erwartet wurde, dass sie dies stillschweigend hinnehmen.

Selbstverständlich richten sich die Forderungen der Anwälte nicht nur auf ihre eigene Situation. Ihre grundlegenden Forderungen decken sich mit den Forderungen von Ibrahim GÖKCEK, einem Mitglied von Grup Yorum, der sich inzwischen in den 300´er Tagen befindet, von Mustafa KOCAK, der sich in den 290´er Tagen befindet, sowie von Helin BÖLEK, einem weiteren Mitglied von Grup Yorum, die im 288. Tag des Todesfastens ihr Leben gelassen hat: Das Ende der unrechtmäßigen und willkürlichen Verfahren, die Aufhebung aller Strafurteile, die in diesen Verfahren erlassen wurden und die Beseitigung aller Hindernisse für die Wahrnehmung des Rechts auf „Fair Trial“, wie die Institution der unbenannten Zeugen und Geständigen, darstellen…

Die Anwälte des Volkes befinden sich mit diesen einfachen und durchaus erfüllbaren Forderungen im Todesfasten. Und wir rufen alle KollegInnen, JuristInnen, Rechtsanwaltskammern, Rechtsorganisationen, AktivistInnen dazu auf, unsere KollegInnen, die sich mit der Forderung nach Gerechtigkeit im Hungerstreik befinden, zu unterstützen, diese Forderung zu verbreiten und aktiv an der Erfüllung dieser berechtigten Forderungen teilzunehmen.

Es liegt an uns, sie weiterleben zu lassen.

Lasst sie uns mit unserem Widerstand, unserer Solidarität weiterleben!

RECHTSBÜRO DES VOLKES/INTERNATIONALES BÜRO

PEOPLE´S LAW OFFICE/INTERNATIONAL OFFICE

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