“Für unser Volk gingen sie freiwillig in den Tod”
Nur mühsam kann sie gehen, zwei Personen helfen ihr. Zum Sprechen hat sie keine Kraft mehr. Wir gehen an dem Bett vorbei, in dem ihre Genossin liegt. Gerade in diesem Moment reicht sie ihr mit viel Mühe ihre Hand. Ihre Genossin nimmt dies wahr und hebt ihre Hand ganz leicht. Für einen Moment bleiben ihre Hände ineinander. Sie schauen sich gegenseitig an, trotz der schwindenden Sehkraft. Ein leichtes Lächeln in ihren Gesichtern.
Das Volk lieben, bedeutet zusammen mit dem Volk lachen und weinen. Die Revolution wollen, bedeutet für die Befreiung und schöne Tage kämpfen. Den Bergen, Städten und Straßen unseres Landes die Freiheit bringen. Die Liebe zu den GenossInnen, die Verbundenheit zur Partei, zu unserem Generalsekretär Dursun Karatas zu spüren bedeutet: Von den Ausbeutern, Blutsaugern, Vergewaltigern und Folterknechten Rechenschaft verlangen, den Haß und die Wut gegen diese zu spüren. Wir sind alle in unterschiedlichem Alter, aus unterschiedlichen Kulturen, an unterschiedlichen Orten, auf unterschiedlichen Bereichen aber im Kampf für die gleichen Ideale gefangen genommen worden. Unsere “Freie Gefangenschaft”, unsere in den Kerkern gefallenen Genossen sind für uns richtungsweisend. Unsere Waffen sind:”Unsere Körper, unsere Entschlossenheit und unser Mut”
Unsere Gefallenen des Todesfastens haben neue Werte geschaffen und haben wie eine Bombe in die Gesichter der Feinde eingeschlagen.
Am Anfang des Widerstandes war uns allen klar, daß wir siegen würden. Uns erwarteten große Tage und wir mußten dazu bereit sein. Wir mußten siegen ohne auch nur einen Moment den Sinn des Widerstandes zu vergessen.
Mein Haß und Verlangen nach Rechenschaft von den Feinden, als die ersten von uns im Widerstand fielen, kann ich nicht mit Worten beschreiben. Du atmest die gleiche Luft wie die Todesfastenden, und siehst wie ihre Körper, Tag für Tag, schmelzen und zusammenbrechen. Nach einer Weile verlieren ihre Augen die Sehfähigkeit, die Ohren hören nicht mehr. Vom Kopf bis zu den Füßen werden die Glieder taub. Ihre Haut verschuppt und fällt langsam ab. Dazu kommt zeitweise Magenbluten.
Die Schmerzen nehmen immer mehr zu. Um deinen Genossen die Schmerzen vergessen zu lassen, versuchst du mit ihnen zu sprechen. Mehr kannst du auch nicht machen. Unsere GenossInnen sind aber so willensstark, daß sie immer danach fragen, wie es ihren GenossInnen geht. Obwohl sie sich selbst dem Tod nähern, denken sie immer noch zuerst an ihre GenossInnen, als an sich selbst. Ihre unerträglichen Schmerzen waren nicht mehr zu verbergen, dennoch versuchten sie es mit aller Mühe. Manchmal weinte ich vor Trauer, manchmal empfand ich Stolz für ihr Verhalten und weinte vor Freude. Um nicht sentimental zu werden, habe ich stark mit mir gerungen. Ich habe fortwährend mit mir gekämpft. Ich glaube das ist ein Teil des mit sich selber Abrechnens. Sie waren die, die freiwillig in den Tod gingen, für unser geliebtes Volk. Es würde zu uns nicht passen, in Kummer zu versinken oder um sie zu trauern. Wenn wir den Widerstand in diesem Glauben führen, haben wir wirklich gewonnen. Mit jeder Nachricht eines weiteren Gefallenen stieg unsere Wut, unser Haß und unsere Entschlossenheit immer mehr.
Wir hatten ein unbeschreibliches Verlangen, draußen zu sein und Rechenschaft zu verlangen. Der Widerstand hatte sich auch auf unser tägliches Leben ausgewirkt. Er hatte uns reifer gemacht.Wir achteten sehr auf unsere Sitzweise, Redeweise und auf unser zwischenmenschliches Verhalten. Ich versuchte mit starkem Willen zu handeln. Man kann sagen, daß bei uns eine neue Kultur entstanden ist. Speziell uns Frauen bot der Widerstand die Möglichkeit, sich von dem Verhalten, den Gewohnheiten die uns das System aufzwang, zu befreien. Die uns vom System aufgezwungene Mission der Zweitklassigkeit, des sentimentalen Geschlechts, des Objektes sexueller Ausbeutung, haben wir zur Seite geschoben und an dem Kampf teilgenommen, der für uns Befreiung bedeutete.
Es ist natürlich nicht leicht, das in hunderten von Jahren geschaffene Frauenbild sofort in das Bild einer revolutionären Frau umzuwandeln.
Aber wir lernen von unseren heldenhaft gefallenen Genossinnen, Frauen wie Sabo, Eda, Zehra, Sibel, Adalet und Ayce Idil Erkmen, die mit ihren Leben und ihrem Tod ein Beispiel für uns wurden.
Von ihnen lernen wir, was eine revolutionäre Frau ist.
Ich habe während des Widerstandes sehr viele Erlebnisse gehabt, die mich stark beinflußten. Jede Art von Verhalten, jede Bewegung, jedes Gespräch, ein kleines Lächeln, ja alles. Ich massierte in der Nacht die Füße einer Todesfastenden, weil sie taub geworden waren, und sie sagte dauernd:”Du bist müde geworden, du bist schon solange wach, geh endlich schlafen!”
Auch wenn ich versuchte, sie davon zu überzeugen, daß ich nicht müde war, so schaffte sie es doch mich wegzuschicken. Danach fragte sie jemand, ob ich nun eingeschlafen war, oder nicht.
Der 65. Tag brach nun an. Sogar das Sprechen führte bei ihnen zu Kalorienverlusten. Eine Todesfastende, der es sehr schlecht ging, stieg mit viel Mühe aus ihrem Bett und kam an die frische Luft und um mit uns zu sprechen.
Diese Tat erfreute mich, Genosse wie es mich beeinflußte. Physisch gesehen näherten sie sich dem Tode. Nur ihr revolutionärer Wille erhielt sie am Leben. Sie haben sich nicht fallen gelassen. Bis zum letzten Augenblick haben sie versucht, alles zu tun, was sie tun mußten, ihre Bedürfnisse selbst zu erledigen. Ich habe so viele Sachen von ihnen gelernt und verinnerlicht, mehr als ich durch jahrelange theoretische Schulung und durch Bücher gelernt hatte. Während sie Zelle für Zelle starben, habe ich erlebt und gespürt, wie ich von der Stelle, an der ich hinter ihnen zurückgeblieben war, aufstand und mit ihnen lief.
In Anbetracht der Größe des Widerstandes schmelzen, die kleinen Pläne, die Luftschlösser. Das Ich wird gar nicht in den Mund genommen. Im Widerstand wird das ich einen Teil beitragen. Das ganze Leben wird von Beginn an hinterfragt. Jeder Moment des Widerstandes voll mit innerem Abrechnen und Bekenntnissen. Die Gespräche werden fort an mit “nach dem Widerstand” beginnen; mit einem “vor dem Todesfasten” und “nach dem Todesfasten”.